Studentische Flüchtlingsarbeit – Ein Bericht von Fabian Lochner

Meine Flüchtlingsarbeit in Weil der Stadt

Nachdem ich im Dezember 2017 mein Bachelorstudium erfolgreich abschließen konnte und anschließend sehr viel freie Zeit bis zum folgenden Studium (Oktober 2018) zur Verfügung hatte, entschied ich mich, die oftmals medial sowie gesellschaftlich stigmatisierten Flüchtlinge und deren hiesige Lebensrealität(en) persönlich in Augenschein zu nehmen, um fernab jeglicher Mundpropaganda und Vorverurteilungen in Kontakt mit denselbigen zu treten.

Über eine Freundin kam der Kontakt zu Frau Maier vom AK Asyl zustande, welche ich in den Flüchtlingscontainern der Josef-Beyerle-Straße in Weil der Stadt antraf (Januar 2018). Sie hatte bereits vorher eruiert, bei welchem der dortigen Bewohner Handlungsbedarf hinsichtlich etwaigem Deutsch- oder Englischunterricht bestand.

Frau Maier stellte mir sodann Feraidon vor, einen 21-jährigen Afghanen, der zu diesem Zeitpunkt seinen Hauptschulabschluss in Feuerbach absolvierte. Als ich Feraidon das erste Mal antraf, spürte ich sogleich, dass in ihm eine äußerst ausgeprägte Freundlichkeit und Wärme vorhanden war. Ohne mich zuvor überhaupt einmal gesehen zu haben, öffnete er mir direkt sein Zimmer und seine Räumlichkeiten und wollte sofort sicherstellen, dass es mir auch an ja nichts mangelte, sodass ich mit Chai (Schwarztee) und Snacks überhäuft wurde.

Abgesehen von dieser wunderbaren Gastfreundschaft und Herzlichkeit verwunderte mich mindestens gleichermaßen, dass Feraidon bereits sehr gutes Deutsch sprach: Weder war er sich mir gegenüber als Muttersprachler unsicher in seiner Artikulation, noch stotterte er oder war es ihm peinlich, nicht ad hoc jedwedes Wort in Deutsch präsent zu haben.

An diesem ersten Abend erzählte mir Feraidon, dass er bereits seit knapp 2,5 Jahren in Deutschland lebte und zuvor sowohl in Turnhallen (in Leonberg) als auch in anderen Flüchtlingscontainern untergebracht war. Während unserer Konversation bereiteten zwei afghanische Freunde von Feraidon, Atir und Haxar, Abendessen für uns alle vor. Zunächst war ich ein wenig skeptisch, weshalb die Essenszubereitung derart lang dauerte (wir unterhielten uns sicherlich schon seit knapp 1,5-2 Stunden), wurde allerdings anschließend eines Besseren belehrt: Auf dem handelsüblich großen Schreibtisch von Feraidon wurde ein Topf mit Reis und Gemüse sowie ein Teller mit frischen Salaten nach dem anderen abgestellt, bis derselbige fast schon überquoll bzw. keinerlei Platz mehr vorhanden war.

Anschließend sammelten wir uns alle (Feraidon, Atir, Haxar und ich) in Feraidons 10-15 m² großem Zimmer am Boden zusammen, um die kulinarischen Köstlichkeiten á la afghanischem Nationalgericht (Reis mit Rosinen und Karotten, auf Paschtu, der am weitest verbreiteten Sprache in Afghanistan*: ق اب لی پ لو bzw. in lateinischen Lettern: Qabuli) zu verköstigen. Zunächst mussten wir allerdings erst die Matratzen von Feraidon und seinem Mitbewohner an die Wand stellen, sodass wir überhaupt genug Platz in dem spärlichen Zimmer neben Schrank, Schreibtisch und Kühlschrank hatten. Aufgrund der Riesenportionen, die Atir und Haxar für uns gekocht hatten, war mehr als ausreichend Essen vorhanden. Feraidon und die anderen forderten mich immer wieder dazu auf, doch noch und noch eine Portion zu essen, wenngleich ich innerlich schon fast am Platzen war. Aus deren Sicht handelte es sich allerdings weniger um eine Mästung meinerseits, als vielmehr um die fortwährende Sorge, es ihrem Gast nicht zu 100 % Recht machen zu können und ihm eine wunderbare Freude zu bereiten.

In dem Flüchtlingscontainer in der Josef-Beyerle Straße in Weil der Stadt ist es grundsätzlich so, dass zwei Bewohner sich jeweils ein Zimmer in der zuvor beschriebenen Größenordnung teilen müssen. Infolgedessen kann man sich relativ leicht vorstellen, dass kein großer Raum für die Privatsphäre der einzelnen Bewohner besteht. Erschwerend kommt überdies hinzu, dass sowohl die Küche als auch die Toiletten gemeinschaftlich genutzt und gleichermaßen gereinigt werden müssen. So erzählte mir beispielsweise Feraidon, dass für ihn anfangs eine gewisse Überwindung darin bestand, die gemeinschaftlich genutzten Toiletten zu putzen, insbesondere vor dem kulturellen Hintergrund, dass bei ihm zu Hause in Afghanistan jegliche Haushaltstätigkeit – von Kochen über Putzen bis hin zum Tee kochen – durch seine Mutter erledigt wurde.

Nichtsdestoweniger war es umso schöner zu beobachten, dass bei Feraidon und seinen afghanischen Mitbewohnern es üblich ist, in Gemeinschaft auf dem Boden zu Abend zu essen und sich über die Erfahrungen des Tages auszutauschen. Hiermit kompensieren sie darüber hinaus sicherlich auch ein wenig die physische Distanz zu ihren in Afghanistan lebenden Familien und schaffen sich mehr oder minder eine Art Ersatzfamilie bzw. -gemeinschaft, mit der sie ihre Eindrücke, Erlebnisse, aber auch Sorgen und Probleme teilen können.

Für mich als „Biodeutscher“, der es seither gewohnt war, ausschließlich an fein säuberlichen und akkurat eingedeckten Tischen zu speisen, entwickelte sich durch diese Art des Essens und der damit einhergehenden physischen Nähe zum Boden ein gewisses Gefühl der Erdung sowie ein Gemeinschaftsgefühl, da wir uns alle unmittelbar gegenübersaßen und so weitaus näher, direkter kommunizieren und interagieren konnten als dies mit einem großen, sperrigen Tisch zwischen uns der Fall sein würde.

Nachdem Feraidon und ich verabredet hatten, uns fortan zwei Mal wöchentlich für Deutsch- und Englischnachhilfe in den Containern zu treffen, machte ich mich tiefnachts auch schon wieder auf den Weg nach Hause. Noch in dieser Nacht musste ich immer und immer wieder über die mir entgegengebrachte Gastfreundschaft und Herzlichkeit sinnieren, die mich tatsächlich nachhaltig beeindruckt und inspiriert haben. So stellte ich mir unweigerlich die Frage, weshalb in der unsrigen, deutschen Kultur eine derartige Offenheit und Gastfreundlichkeit gegenüber Fremden vergleichsweise selten anzutreffen ist. Möglicherweise könnte ein maßgeblicher Grund hierfür der Stellenwert von kapitalistischen Werten, insbesondere des Privateigentums, in unseren westlichen Gesellschaften sein. Oftmals bildet sich allein schon dadurch geistig – und folglich auch materiell – eine Schranke oder Grenze vor den Türen der jeweiligen Hauseigentümer, dass das Eigenheim mitsamt all seiner kostspieligen Inneneinrichtung als schutzbedürftig empfunden wird und vor jeglicher potentiellen Gefahr bzw. Bedrohung durch Fremde abgeschottet werden muss. Hierdurch kultiviert sich wiederum ein gewisser Skeptizismus und Argwohn, gar Misstrauen anderen als fremd betrachteten Mitbürgern gegenüber.

In der folgenden Zeit wurde es zur Gewohnheit, dass ich zwischen 18 und 19 Uhr abends Feraidon besuchen, anschließend 1,5 – 2 Stunden konzentriert mit ihm lernen würde und wir uns daraufhin mit anderen Afghanen des Containers in Feraidons Zimmer zu Abendessen und darauffolgenden Unterhaltungen trafen. Feraidon erzählte mir beispielsweise viel von seiner Heimat und Familie in Afghanistan, welche in einer bergigen Region im Nordosten Afghanistans in Kunduz lebt.
So berichtete er nicht nur passioniert von seiner Mithilfe in der familiären Landwirtschaft in seinen Jugendtagen, sondern gab mir gleichermaßen eine Vorstellung von traditionellen afghanischen Hochzeiten, bei welchen selbst während des Tanzes und Speisens eine strikte Geschlechtertrennung eingehalten wird, ergo Frauen und Männer in separaten Räumlichkeiten feiern.
Weiterhin erhielt ich mittels verschiedenster Youtube-Videos einen Einblick in das in Afghanistan anzutreffende gesellschaftliche und kulturelle Leben: die Impressionen von älteren Herrschaften in Turban sowie jüngeren, auf der Straße herumtobenden Menschen neben der Vielzahl der anzutreffenden Streetfood-Imbisse haben sich tief in mein Gedächtnis eingegraben.

Nichtsdestotrotz beschränkten sich unsere Unterredungen keineswegs auf persönliche oder ausschließlich kulturelle Erlebnisse, sondern hatten darüber hinaus oftmals auch politische Dimensionen angenommen: So diskutierten wir – ausgelöst durch ein Video hinsichtlich der Zerstörung antiker, von äußerster historischer Wertigkeit zeugender Grabstätten in Afghanistan durch die Taliban – die gezielte und bewusste finanzielle sowie militärische Unterstützung der Taliban durch ausländische Kräfte. So vermuten meine afghanischen Freunde insbesondere geostrategische Machtinteressen der Nachbarländer Afghanistans – namentlich des Irans und Pakistans – hinter der gezielten und geförderten Destabilisierung der politischen Situation in Afghanistan. Sowohl westliche als auch östliche Gebiete Afghanistans würden durch den Iran bzw. Pakistan illegitimerweise annektiert und ferner wichtige Bodenschätze, wie beispielsweise Flussströmungen von Afghanistan in den Iran, kontrolliert.

Hinsichtlich dieser vorgebrachten Informationen ist es mir ein eminent wichtiges Anliegen, bewusst zu akzentuieren, dass diese Darstellung keineswegs Anspruch auf absolute Richtigkeit oder Vollständigkeit hinsichtlich der politischen Situation in Afghanistan erhebt, sondern vielmehr lediglich die Perspektive einheimischer Bevölkerungsteile aufzeigen möchte.

Nachdem ich nun einleitend das Verhältnis zwischen den afghanischen Jungs und mir dargestellt habe, möchte ich im Folgenden dem Rezipienten dieses Textes eine konkrete Vorstellung von den tatsächlichen Lebensverhältnissen dieser afghanischen Flüchtlinge in Weil der Stadt geben.
Wie bereits eingangs erwähnt, teilen sich jeweils zwei Bewohner ein durchaus knapp bemessenes Zimmer in den Containern in der Josef-Beyerle-Straße. Als sei dieses kollektive Verfrachten von Migranten in abgesteckte Gebiete innerhalb Deutschlands nicht bereits gesellschaftliche Ausgrenzung genug, so sollte man sich zugleich immerfort vergegenwärtigen, dass in diesen Containern ausschließlich Flüchtlinge unter sich wohnen und infolgedessen hierdurch bereits die Integration insofern beeinträchtigt wird, als dass Kontakt und Austausch mit deutschen Bürgern strukturell erschwert wird.
Hieraus konnte ich mit eigenen Augen sehen, dass die Afghanen einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit unter ihresgleichen in den Containern verbringen, in ihrer Heimatsprache kommunizieren und insofern die deutsche Sprache weitaus weniger üben und praktizieren als dies bei regem Austausch mit deutschen Bürgern der Fall sein könnte.
In diesem Zusammenhang könnte man sicherlich einwenden, dass auf den Straßen in Weil der Stadt und Umgebung genug Deutsche flanierten, um mittels Eigeninitiative Kontakt zu denselbigen aufnehmen zu können. Hierbei sollte allerdings eines berücksichtigt werden: ein nicht gerade geringer Teil unserer deutschen Bevölkerung wirkt – nach Erzählungen der afghanischen Jungs mir gegenüber zufolge – in gewisser Hinsicht unnahbar, ernst und bisweilen skeptisch sowie finster dreinblickend für die hier in Deutschland ankommenden Migranten. Insofern ist es ein Leichtes, sich vorzustellen, dass gepaart mit der einhergehenden Sprachbarriere, der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung keineswegs einfach herzustellen ist.
Des Weiteren besteht für die in den Containern lebenden Flüchtlinge eine substantielle Hürde darin, aus diesen Räumlichkeiten auszubrechen, da für eine eigene Wohnung in den überwiegenden Fällen ein festes Arbeitsverhältnis – bestenfalls in unbefristeter Form – vorliegen sollte. Hierfür sind allerdings wiederum gute bis sehr gute Deutschkenntnisse vonnöten, welche vor dem Hintergrund der Komplexität der deutschen Sprache, insbesondere der Grammatik sowie der verschiedenen Vergangenheitsformen, einen gewissen Zeitraum des Erlernens bedürfen.
Erschwerend kommt hinzu, dass Afghanen nicht leicht eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Solange sie diese nicht haben, sind sie von Integrationskursen ausgeschlossen, es sei denn, sie bezahlen den Kurs selber, was bei den Leistungen des Asysbewerberleistungsgesetzes unmöglich ist.

(Selbstverständlich erhalten die in Weil der Stadt lebenden Afghanen die Möglichkeit, Integrationskurse der VHS als auch Deutschkurse in konventionellen Schulen, etwa wie bei Feraidon in der Form eines Hauptschulabschlusses, zu besuchen.) Trotzdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass erst durch den täglichen, stets praktizierten persönlichen Austausch in Form von Konversationen mit mir als Deutschem die Unsicherheit hinsichtlich der adäquaten Artikulation der deutschen Sprache abgelegt werden kann und ein gewisser Redefluss sich überhaupt erst entwickeln kann.
Vor diesem Hintergrund wäre es äußerst wünschenswert, wenn mehr deutsche Bürger es wagen würden, den ersten Schritt auf die Flüchtlinge (beispielsweise durch Kontaktierung des AK Asyls) zuzumachen und diese Möglichkeit des interkulturellen Austauschs zu nutzen, um nicht nur von deren Lebenserfahrungen in weit entfernten Ländern zu erfahren, sondern vielmehr ebenso angesichts deren vorzutreffenden Lebensverhältnissen die eigene Lebensweise kritisch reflektieren zu können.

In Anbetracht all dieser mehr oder minder stark ausgeprägten widrigen Lebensumstände ist es umso erstaunlicher, dass mir Feraidon und seine afghanischen Freunde immerzu mit einer Gastfreundlichkeit und Zuvorkommenheit begegneten, die seinesgleichen sucht. Weiterhin konnte ich gleichermaßen eine unglaubliche Dankbarkeit für die Bemühungen meinerseits wahrnehmen und wurde für meine bisweilen vorherrschende Andersartigkeit (ich lebe atheistisch, vegetarisch und habe hohe ökologische, soziale sowie moralische Anforderungen an meine generelle Konsum- und Lebensweise) vollkommen akzeptiert.

Man kann getrost sagen, dass sich in dem letzten halben Jahr eine wunderbare Freundschaft zwischen den afghanischen Jungs und mir entwickelt hat und ich diese Erfahrung jedes Mal wieder machen würde. Hoffentlich wird es uns allen eines Tages gemeinsam möglich sein, Afghanistan – nicht gänzlich weggebombt – besuchen zu können. Hierzu haben mich und meine Freundin jedenfalls die afghanischen Jungs immer und immer wieder mit funkelnden Augen freudestrahlend eingeladen.

* Insgesamt gibt es laut Aussagen meiner afghanischen Jungs über 20 verschiedene Sprachen in Afghanistan.

 

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